Mit jedem Schritt wird das Fauchen mysteriöser. Es ist nicht klar, wo es herkommt. Vom Wind, der hier im Nordwesten von Wales ungestüm aufs Land weht? Von den Wellen der aufgewühlten Irischen See, die an den Felssockel des weißen South Stack Lighthouse klatschen?
Zum Meer zieht sich eine hohe Steinmauer, in deren Schutz ich eine Treppe erreiche. 400 Stufen in die Tiefe führt sie und macht den Eindruck, sie sei einer Szene aus »Der Herr der Ringe« entsprungen. Unten an ihrem Ende der umtoste Leuchtturm. Nirgends eine Seele zu sehen. Runtergehen? Umkehren? Die Vernunft siegt schließlich. Ich laufe zurück zum Fahrrad.
Erst mal raus aus dem Gebläse. Das South Stack Lighthouse sitzt im Norden von Wales auf einem Felsbuckel vor Holy Island. Also eine Insel vor einer Insel vor der Britischen Insel. Mit jedem Kilometer landeinwärts flacht der Wind ab. Eigentlich schade, denn ich hatte mich mit ihm gerade richtig angefreundet – war er doch als Rückenwind ein guter Verbündeter. Es geht nach Süden. Radler folgen in Wales den markierten Routen, und die sind richtig gut. Wie im gesamten Vereinigten Königreich hat die Organisation Sustrans in allen Countys mehrere Strecken über das Land ausgelegt. Ich verbinde die vielversprechendsten des National Cycle Networks miteinander, die National Cycle Route 8 bildet dabei die Leitlinie. Sie trägt den walisischen Namen Lôn Las Cymru, was übersetzt so viel wie »Wales’ grüner Weg« bedeutet.
Einmal um die Bergkette
Die Wege in Wales fordern nicht nur, sondern vor allem belohnen sie mit großartigen Bildern. Zu Beginn der zweiten Etappe rolle ich von meinem B&B zum Caernarfon Castle, einem trutzigen Weltkulturerbe der UNESCO.
Hier beginnt der 70 Kilometer lange Snowdonia Loop. Er zieht sich mit weit ausholenden Schwüngen auf eine Kuppe, und plötzlich stehen sie da, die Berge des Nationalparks Eryri (Snowdonia). Ihre Gipfel stecken noch in den Wolken, doch die Sonne zaubert ein Licht- und Schattenspiel auf die Hänge. Die Gräser leuchten golden, die Farne verfärben sich langsam rot. In den Senken breiten sich Seen aus.
Am Ufer des Llyn Padarn erreiche ich Llanberis, den touristischen Hotspot der Region: Sehr beliebt ist die Fahrt mit der Snowdon Mountain Railway auf den mit 1.085 Meter höchsten Berg von Wales. Das Tor des Bahndepots steht offen, drinnen fauchen drei der lotusgrünen Dampflokomotiven vor sich hin. Arbeiter werkeln herum, richten die putzigen Züge für den nächsten Gipfelsturm her. Das muss eine tolle Fahrt sein! Meine ist es ebenfalls.
Wie ein Landschaftsgarten
Am dritten Reisetag führt mich die Nationalroute 8 wellig durchs Hinterland und trifft in Barmouth in der Grafschaft Gwynedd auf das Meer. Gerade herrscht Ebbe, die See liegt ruhig da. Südlich der Stadt schwingt sich ein hölzernes, 700 Meter langes Viadukt über den Mündungstrichter des Flusses Mawddach. Er entwässert Teile des Snowdonia-Gebiets. Neben den Bahngleisen führt ein Fuß- und Radweg auf die andere Seite. Drüben schwenke ich den Lenker landeinwärts und fahre auf dem Mawddach-Trail weiter.
Zwischen 1868 und 1965 benutzte die Great Western Railway diese Trasse. Beiderseits des Damms Wasser: Rechts verliert sich der Blick in kleinen Seen und mäandernden Bächen, links das weite Flusstal. Es zeigen sich nur wenige Radreisende, vielleicht liegt es daran, dass ich außerhalb der Hauptsaison unterwegs bin. Es ist toll, eine Route fast exklusiv zu haben, besonders diesen leichten und gut ausgebauten Bahntrassenweg.
Er führt nach Dolgellau, in den nächsten Etappenort. Eng kuscheln sich die Gebäude aus Granit und Schiefer hier an den Fluss. Die Einwohner der Stadt lebten einst von der Wollverarbeitung, und Mitte des 19. Jahrhunderts gab es dann einen Goldrausch. Heute setzt man auf Schafzucht sowie auf Tourismus. Für Radler sind diese Kleinstädte ideal: Immer ein historisches Ortsbild, immer kurze Wege und immer reizvoll gelegen. Im Norden der Nationalpark, im Süden das Bergmassiv Cadair Idris.
Dorthin führt meine Reise, zunächst hoch auf ein Plateau, dann Abfahrt zu einem See. Auf einige Farmen folgen die lieblichen Täler der Flüsse Afon Dulas und Severn. Wie in einem Roadmovie wechselnde Bilder.Hügelketten, darauf ziehen sich Steinmauern wie Muster durchs Grün. Baumreihen zeigen an, wo eine Weide endet und die nächste beginnt. Die Schafe darin wie in einem Gemälde hingetupft. Ich könnte vor Freude Bocksprünge machen, so toll ist das Radeln in dieser Landschaft.
Finale in den Black Mountains
In der Stadt Hay-on-Wye, am gleichnamigen Fluss Wye gelegen, breche ich zur finalen Etappe auf. Die heutige Tour trägt den Titel »Black Mountains« und bringt es auf 100 Kilometer.
Zuerst geht es auf 550 Meter Höhe und am Nachmittag am Monmouthshire & Brecon Canal entlang. Das Sträßchen lässt den Fluss Wye hinter sich und zieht sich in die Berge. Stille. Nur der Wind und das Blöken der Schafe sind zu hören. Farne überziehen die Wiesen, darüber die baumlosen, von einem Nationalpark geschützten Brecon Beacons. Das Gebirge kam im Mittelalter zu seinem Namen. »Beacons« steht für die Leuchtfeuer, die man zur Warnung vor britischen Eindringlingen auf den Bergen anzündete. Heute trägt der Nationalpark seinen walisischen Namen: Bannau Brycheiniog Nationalpark, oder kurz „The Bannau“.
Mir fällt wieder der Anfang meiner Reise ein. So einen Wind hatte ich auf der gesamten Tour nicht mehr. So radeln sich die letzten Kilometer fast wie von selbst. Ganz entspannt am Monmouthshire & Brecon Canal entlang. Neben der bei Hausbootbesitzern beliebten Wasserstraße zieht sich ein Weg in die Länge. Radler, Fußgänger – alle grüßen herzlich. Vom gerade einsetzenden Regen lässt sich hier niemand die gute Laune verderben. Der gehört einfach zu Wales wie die charmanten Kleinstädte, die Berge, das Meer und das üppige Grün drumherum.
Anreise und allgemeine Infos
Fliegen bietet sich entweder in die Hauptstadt Cardiff im Süden oder nach Bristol an. Wenn man Wales vom Norden her entdecken möchte, sind Manchester und Liverpool ideal.
Ein verpacktes Fahrrad lässt sich im Flieger mitnehmen, kostet aber extra. Für diese Reise wurde ein Fahrrad bei Drover Cycles geliehen.
In Wales kann man mitsamt dem Fahrrad im Zug gut in die verschiedenen Landesteile reisen. Hier findest Du weitere nützliche Infos zum Thema Radfahren und auch über das Thema Bahnreisen.
Wer seine Reise mit öffentlichen Verkehrsmitteln in Wales plant, für den ist auch die Website von Traveline Cymru sehr hilfreich und spezielle Infos und Karten für Radler gibt es bei Sustrans.
Gefahrene Tour
Die markierten Radrouten sind sehr gut ausgearbeitet, laufen meist ruhig durch die Natur und bieten viel Abwechslung. Die vorgestellte Tour ist 500 Kilometer lang und bringt es auf 6.000 Höhenmeter. Sie beginnt im Nordwesten des Landes und folgt drei Strecken: Lôn Las Cymru (National Cycle Network Nr. 8), Snowdonia Loop und Black Mountains. Auf 420 Tourenkilometern geht es über Nebenstraßen und Asphalt.
Die wenigen Schotterstücke sind teils holprig, lassen sich aber dennoch gut fahren. In Großbritannien hat man die Radrouten mit blauen Schildern und roten Nummern gekennzeichnet. Die Beschilderung ist gut und bereits von Weitem zu sehen. Radler übernachten am besten in B&Bs. Dort wird man herzlich empfangen und mit vielen Tipps für die nächste Etappe versorgt.
Weitere Radtouren
Celtic Trail (NCN Routen 4, 8, 47, 576 Kilometer). Fernradler aufgepasst! Der Celtic Trail bietet sich für einen spannenden Urlaub an: wilde Küstenlandschaften, grüne Täler und Berge. Man muss sich nur entscheiden: der West-oder der Ostroute nachsteuern? Am besten beide nacheinander!
North Wales Coastal Route (NCN Route 5, 176 Kilometer). Diese Panoramafahrt hangelt sich an der Irischen See entlang: an tollen Buchten vorbei und durch Küstenstädte.
Austoben in den Mountainbike-Zentren – BikePark Wales, Afan Forest Park, Coed y Brenin.
Auf einer Tour durch Wales kann man wunderbar auch einen der Bike-Parks ansteuern. Dort ist einem stets die Spielwiese bereitet: Waldtrails, steinige Bergpisten, Downhill-Parcours. Oft versüßen einem Liftservice und ein Café den Tag.